2011: Praktische Utopien
Seine ersten Signale hatte dieses Projekt schon im letzten Frühherbst ausgesendet: Für ÜBER LEBENSKUNST wurden Berliner Initiativen aufgerufen , ihre Ideen für ein anderes, nachhaltiges Leben zu beschreiben: zwecks möglicher finanzieller Förderung und Präsentation als wegweisendes Vorhaben in dem für Sommer 2011 geplanten Festival. ÜBER LEBENSKUNST war so etwas wie eine Exploration, stellte weit reichende Fragen und startete dazu einfach mal Versuche, mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln: Wie kann ein gutes Leben – nicht Existieren – in Zeiten globaler ökologischer Krisen aussehen, ohne Eskapismus, dafür mit Verantwortung. Wie können Wege und Hilfsmittel tatsächlichen Umdenkens gefunden werden, nicht mit Bußpredigten, dafür mit Fantasie und Spaß. Ein großes Unternehmen, weshalb die vorbereitenden Aktionen früh starteten. Dem Aufruf zur Beteiligung folgt die Auswahl der 14 praktisch-utopischen Vorhaben, die Agro-Soziotope aufbauen, Energielöcher aus Energielecks und Fitness-Studios stopfen, Licht in Hinterhöfe bringen, Sushis mit regionalen Produkten drehen, Pfandflaschen umverteilen und kooperativ mit Fischen und Bienen produzierend die Stadt beleben. Künstlerinnen von myvillages.org füllen über Monate eine „Vorratskammer“ aus lokalen Provinienzen wie Kleingärten, märkischen Landkommunen und Jagdgebieten – Zusammenarbeit und Geschichtserfahrung werden so kreiert, Hightech und Bio gekreuzt, Wert und Markt, und im Spiegelteich vorm HKW schwimmen die Salatgärten. Ein Denker-Klub startet März 2011, Berliner Bands umkreisen ab April das Thema musikalisch. Lord Mouse and The Kalypso Katz fordern flapsig: „Apocalypso now!“, Animal Cops fragen: “Sind die Menschen die eigentlichen Tiere?”.
Klar, dass dann beim eigentlichen Festival im August nun auch wirklich alle im Veranstalter-Sprech „Formate“ genannten Veranstaltungsformen ins Feld geführt werden – 101 Stunden nonstop. Nicht selbstverständlich aber, dass dabei eine ebenso nachdenkliche wie spielerische, genießerische wie ernsthafte Atmosphäre entsteht. Wichtig dazu natürlich das inhaltliche, reflektierte Ambiente: Fat Koehl Architekten entwickeln alternative Modelle des Wohnens und Arbeitens mit einem verwinkelten IMBAUEINBAU, der später bei einem Festival des HAU auf dem Tempelhofer Feld event-recyclet wird. Eine temporäre Nachtherberge wächst daneben für das ÜBER LEBENSKUNST-Camp, eine Art internationaler Aktions-WG, die das Programm kritisch begleitet und interveniert. Natürlich verändert ein einzelnes Festival die BRD nicht nachhaltig, insofern liest sich manche Ankündigung von damals etwas vollmundig, aber: es lanciert Anstöße und Modellprojekte. Und, ganz besonders wichtig: Ein künstlerisches Bildungsprogramm wird in 15 Schulen der BRD erprobt – so etwas wie ein Zukunfts-Curriculum. Interessiert am Nach- und Weiterlesen? ueber-lebenskunst.org gibt interessante Auskunft.
In einer Chronik des HKW jedenfalls hat ein Festival wie ÜBER LEBENSKUNST über seine eigene Bedeutung hinaus noch einen besonderen Stellenwert: Das Projekt markiert überdeutlich den „educational turn“ oder „scientific turn“, der sich schon in den Jahren zuvor mit den Essay-Ausstellungen angedeutet hatte. Überdeutlich etwa 2010 mit „Das Potosí-Prinzip“, einem streng durchnummerierten Parcours durch eine immense Fülle von Material zur Geburt des elaborierten kapitalistischen Systems - in der Ausbeutung des kolonialen Südamerika im 17. Jahrhundert.
Das HKW stellt fortan seine Arbeit unter eine Leitlinie, die studentenbewegungsparolenhaft formuliert so lauten würde: Schafft ein, zwei, viele Programme an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft! Wissensproduktion durch Mittel der Kunst! Daraus entspringen in den folgenden Jahren einige große explorative Projekte und Arbeitszusammenhänge, die, um fruchtbar zu sein, über mehrere Jahre angelegt sind. Da geht es denn schon mal um ein ganzes neues Erdzeitalter – siehe Episode 2013: Das Anthropozän ruft.
Axel Besteher-Hegenbart