2006: Gilberto Gil, ein Festival und die Erneuerung des Hauses
2006, Sommer, ganz Deutschland ist von den Legionären des Königs Fußball besetzt und alle Kulturinstitutionen sind leer, nur ein Kulturhaus in Tiergarten hält tapfer dagegen, ist voller Besucher - so à la Asterix kann man die Geschichte nun doch nicht erzählen, obwohl das mit den Besuchern stimmt. Man muss die Geschichte so erzählen, dass mit der "Copa da Cultura", dem Festival brasilianischer Kultur, das im HKW zur Weltmeisterschaft stattfand, der Ansatz "Fußball und Kultur" verfolgt wurde. Das Foyer des Hauses wurde zum Treffpunkt mit gemeinsamem Spielejubel vor der großen Übertragungsleinwand und brasilianischen DJs und Tänzern. Danach und daneben gab es Avantgarde-Performances, Installationen, künstlerische Interventionen an verschiedenen Orten der Stadt, Filme und ausverkaufte Konzerte mit den Größen der Musikszene Brasiliens– von Jorge Ben Jor über Elza Soares und Bebel Gilberto bis Chico Buarque, und natürlich Gilberto Gil, der hier für mehrere Tausend Begeisterte auftrat und zuvor als Kulturminister das Festival angeschoben hatte. Dahinter stand ein Kulturverständnis der etwas anderen Art: Fußball, brasilianischen zumal, zu begreifen als Ausdruck einer Alltagskultur, die auch der Boden für andere Künste ist. So kamen Genuss, Begeisterung und Kunst zusammen, was hierzulande ja oftmals getrennt gesehen wird. Das konnte auch das Haus der Kulturen der Welt lernen bei diesem Festivalmarathon mit 132 Veranstaltungen, 55.000 Besuchern und 64 Fußballübertragungen. Große Zahlen. Dennoch bleiben Fragen: Parallel zum Ende des Festivals brachen in São Paulo bürgerkriegsähnliche Kämpfe zwischen Polizeikommandos und der organisierten Kriminalität des "Ersten Hauptstadtkommandos" (Primeiro Comando do Capital/PCC) aus, mit hunderten von Toten, brennenden Banken und Ämtern, Razzien in den Favelas. Hätte man im HKW aktuell darauf reagieren können, sollen? Ein Schwergewicht des Festivals war immerhin die Ausstellung "Trópicalia - Eine Revolution der brasilianischen Kultur", die eine fast kulturrevolutionäre Bewegung der 60er-Jahre zeigte: die Populärkultur Brasiliens mit ihren indigenen, afrikanischen und europäischen Wurzeln rückzukoppeln mit westlicher Popkultur. Mit Gilberto Gil war einer der Protagonisten dieser Bewegung im Haus, der für sein tropicalistisches Schaffen unter der damaligen Militärdiktatur verfolgt wurde – Gil wurde dazu aber kaum befragt. Dabei war "Trópicalia" doch auch ein praktisches Beispiel der "Antropofagia" benannten "Kulturfresserei", eines im Brasilien der 1920er-Jahre entwickeltes Konzept der Überwindung kultureller Grenzen: "Friss! Verdaue! Spuck's aus!" Genau das Thema des Hauses der Kulturen der Welt. Und wie Feiern, Genießen und Reflektieren zu vereinen ist, wird dort wohl weiter Gegenstand der Überlegungen.
Die Journalistin Ute Büsing, unter anderem für RBB.Inforadio unterwegs, schrieb über die weitere Entwicklung für das Buch "Das Haus. Die Kulturen. Die Welt.", das pünktlich zum 50. Jubiläum der Kongresshalle im Nicolai Verlag herausgekommen ist: „Die Konzerte strahlten wie die Fan-Meile zwischen Straße des 17. Juni und Brandenburger Tor einen Massenappeal aus, wie ihn das Haus der Kulturen der Welt seit seinen Anfängen nicht mehr erlebt hatte: Full House, rundherum. Einheit in der Vielheit der Trikotträger, unterschiedlicher auf `ihren` WM-Sieg programmierter Nationen – und zu gleicher Zeit: Dialog der Kulturen auf Augenhöhe.“
Nach dieser „Euphorie-Welle“ schloss das Haus für eine einjährige Renovierungspause, wurde in großen Teilen entkernt und mit vielerlei neuer Veranstaltungstechnik ausgestattet. Ute Büsing weiter: „Doch auch während der Umbauphase regte sich was: `meine Baustelle` hießen Begehungen mit performativem Charakter. Dabei wurde nach dem Wechselspiel von gesicherten Lebensorten und Migration gefragt. Parade-Beispiel: `Avenir!, Avenir!` (`Zukunft!, Zukunft!`). Mit einem Laien-Ensemble aus Immigranten setzte der iranische Regisseur Hamed Taheri 30 Theaterfragmente von Goethe, Beckett oder de Sade in den rohen Beton der Baustelle. Ein wenig wie bei einer Schnitzeljagd folgte jeder einzelne Besucher dabei individuell für ihn ausgelegten Spuren und traf in verschiedenen Räumen auf Ausgegrenzte, Leidende, Gefolterte. Begleitet wurde das Martyrium von der brutalen Musik des israelischen Komponisten Dror Feiler.
Ein solches radikales Körpertheater des Leidens und der Erinnerung, an Konventionen und Traditionen vorbei, darf Hamed Taheri in seiner Heimatstadt Teheran nicht zeigen. Mit der kleinen Performance bewies das Haus sogar während der Schließungsphase seine Wichtigkeit als offener Ort für künstlerische Positionen, die von den Mehrheitsmeinungen und dem Diktat der Sittenwächter in den Herkunftsländern der Künstler abweichen. Und für das Publikum lösten die verstörenden Begehungen den dialogischen Grundgedanken des Hauses ein. Denn im Anschluss trafen sich die individuell durchgeschleusten Teilnehmer gemeinsam bei Kaffee und Kuchen, Brot und Wein auf der Hinterbühne. Da wurden durch die Performance ausgelöste private Schlüssel-Reize diskutiert. Denn Hamed Taheri war es gelungen, die Schicksale der aus ethnischen, politischen oder religiösen Gründen Verfolgten mit den Biografien der Besucher zu verbinden - jenseits platter Betroffenheitsattitüde. Der Durst des einen war also der Hunger des anderen. Das Kleinst-Ereignis zeigte, was im Großen künftig möglich sein könnte. `Avenir!, Zukunft!` für das Haus der Kulturen der Welt.“
Dem kann man kaum noch etwas hinzufügen.
P.S. Klar, dass das Zitat von Ute Büsing auch ein Kaufanreiz sein soll: „Das Haus. Die Kulturen. Die Welt“ mit Aufsätzen unter anderen von Michael S. Cullen, Wolf Lepenies, Claus Leggewie und Peter Schneider ist für 19,90 € erhältlich, zum Beispiel im Bookshop des HKW.
Axel Besteher-Hegenbart