1995: Berlin schwebt
Abheben zwischen Reichstag und Haus der Kulturen der Welt
Vergesst den Kudamm! Streicht Kreuzberg aus Euren Planungen für den Abend! Berlins quirligstes Viertel, nicht nur tagsüber, sondern gerade auch für Nachtschwärmer ist im Sommer des Jahres 1995 der Tiergarten. Die Verhüllung des Reichstags hat es möglich gemacht. 23 lange Jahre mussten Jeanne-Claude und Christo beharrlich gegen Widerstände ankämpfen, bevor sie das Gebäude, in das 1999 der Deutsche Bundestag einziehen soll, jetzt endlich verpacken durften. Prominente Politiker wie Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble waren dagegen gewesen, aber auch bei vielen Berlinern stieß die Kunstaktion zuvor auf Skepsis, wenn nicht sogar auf Ablehnung.
Doch als am 17. Juni ungefähr 90 professionelle Kletterer und ihre freiwilligen Helfer damit beginnen, mehr als 100.000 Quadratmeter feuerfeste Stoffbahnen über den Reichstag zu ziehen, beteiligen sich die meisten Hauptstädter spontan am gigantischen Happening. Das Areal vom Brandenburger Tor über das Parlamentsgebäude bis zum Tempodrom und schließlich zur Kongresshalle wird zur großartigen Mischung aus Jahrmarkt, Kunstmeile und Picknickfläche. Edel gekleidete Menschen breiten noch in der Dunkelheit auf dem Rasen ihre Decken aus, genießen "The Wrapped Reichstag" zu Delikatessen und Champagner: Impressionen, die ein wenig an Manets berühmtes Gemälde "Frühstück im Grünen" erinnern, nur dass keine nackten Frauen dabei sind.
Die Welt ist zu Gast im Tiergarten. Das trifft sowohl auf das Publikum als auch, gerade im Haus der Kulturen der Welt, auf die Künstler zu. Noch bevor der Hype um den Reichstag begann, hatte dort das Festival Traditioneller Musik Menschen aus „AfrikaSüd“ vorgestellt, von denen viele vorher noch nie eine Bühne gesehen, geschweige denn betreten hatten. Ähnliches galt für ein Festival mit Vertretern der australischen Aborigines. Ganz große Namen hatte dagegen das Festival "Jazz Across The Border" im Angebot, das zur Hälfte zeitgleich mit dem Christo-Projekt stattfand.
David Sanchez hieß der junge Saxofonist, der am 17. Juni, dem Start-Tag der Verhüllung, in der Kongresshalle aufspielte. Damals war der temperamentvolle Puertoricaner nur Insidern ein Begriff. Was sich bald ändern sollte, 2004 erhielt Sanchez etwa für sein Album "Coral" den Latin Grammy. Mit Famoudou Don Moye, Mitbegründer des "Art Ensembles of Chicago" sowie Saxofon-Star Joe Henderson hatte "Jazz Across The Border" sogar zwei lebende Legenden zu Gast. Was auch davon zeugte, wie sehr die anfangs gerne als Ethno-Nische belächelte Sommerreihe sich gegenüber dem großen Jazz-Fest Berlin emanzipierte.
Dabei hingen zu Beginn des Jahres 1995 noch düstere Wolken über dem Haus der Kulturen der Welt. Das drohte nämlich als Spielball im erbitterten Kampf um die Hauptstadt-Finanzierung zerdrückt zu werden. Weil der Bund die Zuschüsse für Berlin gekürzt hatte, kündigte der Senat den Rückzug aus allen Einrichtungen mit gesamtstaatlich-repräsentativer Bedeutung an - was das Haus unter anderen Vorzeichen mit der Übernahme durch den Bund später bekanntlich auch wurde. Doch als der damalige Kultursenator Ulrich Roloff-Momin - der als "Schiller(theater)-Killer" in die Geschichte einging - das Haus dazu aufforderte, bei den Personalkosten "Fantasie" walten zu lassen, schrillten dort die Alarmglocken. Im März 1995 stand man vor dem Dilemma, bei der Programm-Pressekonferenz Veranstaltungen ansagen zu müssen, die vielleicht niemals stattfinden würden. Zum Glück kam es anders.
Und so tobt das pralle Leben im grünen Herzen der Hauptstadt. Wird der Besuch der Veranstaltungen des Hauses oder der diesmal nach Lusitanien blickenden "HeimatKlänge" mit einem Gang zum abends prächtig illuminierten Reichstag verknüpft. Nur was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft, ist die Situation angesichts des Auftriebs in diesem Areal noch komplizierter, als sie der leidgeprüfte Stammgast im Haus der Kulturen der Welt ohnehin schon kennt. Wer keinen Platz im völlig überfüllten 100er-Bus ergattert, darf des Nachts weite Fußmärsche durchs öffentliche Grün absolvieren. Zumindest ist er dabei meist nicht allein.
Mit Problemen ganz anderer Art hat mancher Jazzmusiker zu kämpfen, wenn die Witterung Konzerte auf dem Dach der Kongresshalle zulässt. Christo und Jeanne-Claude locken nämlich nicht nur am Boden, sondern auch in der Luft Publikum in Scharen an. Flugzeuge, die ihre Runden über dem Reichstag drehen. Liebhaber leiser Töne haben nun von der Bühne herab mit den Propeller-Geräuschen zu kämpfen. Gute Musiker, wie etwa der französische Saxofonist und Klarinettist Michel Portal, lassen sich davon jedoch mehr inspirieren als irritieren. Jazz zum Abheben, gewissermaßen.
Uwe Sauerwein
Uwe Sauerwein war ab 1992 Mitglied in der Redaktion der "Berliner Morgenpost" und arbeitet seit kurzem im Bereich Sonderveröffentlichungen des Axel Springer-Verlags.