1990: Geschichte wird gemacht
Heiner Müller und Wole Soyinka im Haus der Kulturen der Welt
1990 steht im Zeichen Afrikas. Am 11. Februar kommt Nelson Mandela nach 27 Jahren Gefangenschaft frei. Am 21. März wird Namibia, die letzte afrikanische Kolonie, unabhängig. Drei Tage später eröffnet das Haus der Kulturen der Welt die Ausstellung „Der geraubte Schatten. Fotografie als ethnografisches Dokument“ mit Afrika im Zentrum. Heiße Diskussionen über „schuldiges Schauen“ folgen, denn es ist bekannt, dass viele ethnografische Aufnahmen unter unwürdigen Bedingungen entstanden sind, dass Mädchen und Frauen nach dem Fotografieren vergewaltigt wurden. Interessengruppen meinen, unter dem Deckmantel von Kunst und Wissenschaft würden hier rassistische und sexistische Blicke ermöglicht, ja gerechtfertigt. Am deutlichsten wird der Konflikt wohl an Nacktaufnahmen. Die taz fragt denn auch: „Wie nackt kann eine schwarze Frau sein? Ist sie nackter als eine weiße Frau? Sehen nackte japanische Frauen angezogener aus als nackte schwarze? Ist ein nackter Mann weniger nackt als eine nackte Frau?“ Begleitet wird die Ausstellung von der Filmreihe „Das Bild fremder Kulturen im Film“. Immer noch gibt das Göttinger Institut für den wissenschaftlichen Film Wissenschaftlern, die sich zu dieser Zeit aufmachen, „Fremde“ zu filmen, Leitsätze von 1959 mit auf die Reise. Sie sollen Menschen genauso filmen wie Tiere. Die so entstandenen Filme sind dementsprechend – arrogant und naiv zugleich. Die HKW-Filmreihe kontrastiert derartige Streifen mit Spielfilmen und stellt damit die Frage nach dem Wesen des Blicks auf das Fremde. Auch die „Heimatklänge“ kommen in diesem Jahr afrikanisch daher: „Beat! Apartheid“ lautet ihr Titel. Die Konzerte der Superstars des südlichen Afrikas finden wie gewohnt umsonst und draußen vor dem Tempodrom neben der Kongresshalle statt. Wer etwas über die Musiker erfahren will, kann anschließend umsonst und drinnen im Haus der Kulturen der Welt mit den Künstlern sprechen. Heftige Kritik am Umgang mit Kultur aus dem Süden wird in der Veranstaltungsreihe „A voyage around – Afrikanische Welten“, mit berühmten und noch nicht berühmten Autoren aus Kamerun, Nigeria und Zimbabwe, geübt. Die afrikanischen Schriftsteller wollen sich nicht mehr dafür rechtfertigen müssen, auf Englisch zu schreiben. Sie wollen die ihnen zugewiesene Rolle des „authentisch-afrikanischen Künstlers“ nicht spielen und „fiktionalisierte Landeskunde“ wollen sie schon gar nicht schreiben. Höhepunkt dieser Reihe ist das Treffen des nigerianischen Literaturnobelpreisträgers Wole Soyinka mit dem deutschen Theatermann Heiner Müller. Ihr Thema ist „die Rolle des Theaters zu Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche“. Dazu haben beide viel zu sagen - sollte man meinen. Beide finden aber Aktuelles interessanter und reden über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa, durch die deutsche Einheit hervorgerufene Spaltungen und die neue Unabhängigkeit der Sowjetunion. Auf die anonyme Bitte, doch endlich auf das Theater zu sprechen zu kommen, erzählt Soyinka von Vaclav Havel, der auf die Frage, ob er denn noch schreibe, antwortete: “Aber hören Sie! Ich schreibe Demokratie!“ Wo ist die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Spiel und Ernst? Antworten gibt es an diesem Abend keine.
Nicht afrikanisch, aber dennoch interessant: Im November des Jahres will Walter Momper, Regierender Bürgermeister von Berlin, an die Vergangenheit anknüpfen und lädt den neuen Bundesrat zur konstituierenden Sitzung am 9. November in die Halle. Eigentlich sollte da der Kongress „Kulturelle Vielfalt Europas“ stattfinden, der muss jedoch weichen. Auf dem Kongress, der dann in der Akademie der Künste im Osten stattfindet, wird denn auch mehrfach betont, dass auch der Respekt von Politikern in einer multikulturellen Gesellschaft vor den kulturpolitischen Themen der Zeit wichtig ist.
Dina Koschorreck
taz 23.4.1990, 6.7.1990, 29.9.1990, 18.10.1990, 8.11.1990