1989: Die Landung der Aliens

Die Kongresshalle wird Haus der Kulturen der Welt

Aus dem HKW-Programmheft April-Juli 1989, Jan Wiltshire, Sänger, Musiker und Dichter aus Soweto, Südafrika

Die neu gegründete „Haus der Kulturen der Welt GmbH“ nahm am 2. Januar ihre Arbeit auf. Die ersten Mitarbeiter waren bereits in den Wochen zuvor angestellt worden und trafen sich nun erstmals im Foyer des Hauses. Auf den Schreibtischen lag für jeden ein Block Papier, ein Kugelschreiber und ein Bleistift. Für alle Beteiligten war es ein neues Gefühl, in einem Haus im Park zu arbeiten, noch dazu in dessen entlegenstem Winkel. Spaziergänger gab es keine, Laufkundschaft erst recht nicht. Die einzigen, die häufiger vorbeischauten, waren Karnickel. Und die waren meistenteils blind, von der Myxomatose befallen.

Fast alle erfahrenen Veranstalter der Stadt hatten vor der Halle gewarnt. Dort sei nach der langen Pause des Ruinendaseins noch jede Veranstaltung gefloppt. Die Halle sei inzwischen unbespielbar, das Publikum fände dort nicht mehr hin, durch die lange Gemischtwarennutzung hätte die Halle kein kulturelles Profil mehr. Die Räume wirkten steril, durch den denkmalschutzgerechten Wiederaufbau seien im übrigen alle Mängel des ursprünglichen Baus sorgfältig wieder hergerichtet worden. Die Bühnen seien zu klein, die Wände nicht verschiebbar, wie es bei zeitgemäßen Veranstaltungsbauten längst Standard sei. Und überhaupt: die ganze Gegend sei mausetot.

Das allerdings stimmte. Die Kongresshalle, heute im Regierungsviertel, lag damals in einem besonders abseitigen Winkel des West-Berliner Grenzlands. Nachbarschaft gab es nicht, die die Gegend hätte prägen können. Wie ein Ufo wurde das Haus von den neu eingetroffenen Mitarbeitern der ersten Stunde empfunden, gelandet an einem extraterrestrischen Ort. Man tröstete sich: Diese Tabula-rasa-Situation könnte auch Vorteile bieten, zum Beispiel eine unverstellte, durch architektonische Nachbarschaft nicht vorgeprägte Perspektive auf die fremden Kulturen, die hier demnächst Einzug halten sollte. Ein idealer Landeplatz für Aliens.

Wie zugrunde gewirtschaftet die Kongresshalle war, ließ schon der Nahverkehr spüren: Es kostete Unmengen Überredungskraft, die BVG davon zu überzeugen, eine Haltestelle der Buslinie 100 ans Haus zu verlegen. Für den Programmstart einigte man sich auf eine sogenannte Bedarfshaltestelle. Bedarf sollte es dann sehr rasch geben, anders jedoch als erwartet. Die neue Mannschaft unter dem Generalsekretär Günter Coenen hatte beschlossen, das Programm des Hauses mit einer Veranstaltungsreihe über verschiedene kulturelle Aspekte Südafrikas aufzunehmen, wo noch das Apartheid-Regime herrschte. In einem Interview benannte er als Teilnehmer Breyten Breytenbach und als weitere Themen für das Jahr Film und Literatur aus Lateinamerika und eine „Minoritätenreihe“ mit Dschingis Aitmatov. Dann aber tat Berlin einiges, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Am 29. Januar gingen die West-Berliner wählen. Das Ergebnis erschütterte die Öffentlichkeit - nicht, weil die CDU/FDP-Regierung überraschenderweise abgewählt wurde, sondern weil die rechtsradikalen Republikaner es schafften, genügend Stimmen für das Abgeordnetenhaus einzusammeln.

Die 1983 von zwei Ex-CSU-Bundestagsabgeordneten gegründeten REPs hatten es - unter anderem in ihrer Fernsehwerbung mit der Morricone-Melodie „Spiel mir das Lied vom Tod“ zu Bildern türkischer Kinder in Kreuzberg - erreicht, so viele Wähler zu beeindrucken, dass sie mit einem Stimmenanteil von 7,5 Prozent statt der FDP als vierte Partei ins Schöneberger Rathaus einziehen konnten. Die Freidemokraten scheiterten an der 5-Prozent-Hürde. Nach zähen Verhandlungen bildete Walter Momper den Berliner Senat zusammen mit den Grünen, damals Alternative Liste genannt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gehörten einem Länderparlament mehr Frauen als Männer an. Für das Haus der Kulturen der Welt war der Wahlsieg der Rechtsextremen Anlass, die Planung für den Start noch einmal zu überdenken. Die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland hatte bislang nur eine kleine Rolle bei den konzeptionellen Überlegungen des HKW gespielt; nun aber zog man den Programmstart vor: Ende März begann das Haus seine Arbeit mit einer Veranstaltungsreihe zur türkischen Kultur in Deutschland. Den Titel lieferte der West-östliche Diwan von Johann Wolfgang Goethe: „Gesteht’s! Die Dichter des Orients sind größer“.

P.S. Ein gesamtdeutsches Ereignis dieses Jahres fand später seinen Niederschlag auch in den quadratischen Programmheften des HKW: Der Vermerk „Für Bürger der DDR ermäßigt sich der Eintritt um die Hälfte“ weist auf die Maueröffnung hin, die im November 1989 die Halle aus der Randlage in die Mitte Berlins rückte.
jae
(Harald Jähner, seit 2003 Ressortleiter Feuilleton der Berliner Zeitung)

Berliner Morgenpost, 3.3.1989
Der Tagesspiegel 19.2.1989