1980: Eine Lawine aus Beton
Die Kongresshalle stürzt ein
In der Rückschau ist man versucht, den Einsturz der Kongresshalle im Mai 1980 durch Ironie zu bagatellisieren. Schließlich fordert ein Baudenkmal, das so stark mit den 50er Jahren verbunden und mit so vielen „volkstümlichen“ Spitznamen belegt ist, geradezu heraus, Formulierungen wie „zerbrochene Auster“ zu prägen. Und in den letzten Jahrzehnten hat man ja den Zusammenbruch ganz anderer Gebäude mit wesentlich weitreichenderen Folgen erlebt. Aber dass viele Berliner an diesem 21. Mai angesichts der Ereignisse „fassungslos“ sind, wie viele Medien melden, ist auf keinen Fall erfunden. Kilometerweit ist der Knall zu hören, als das vordere Dachteil auf 110 m Länge herunter bricht. 600 Tonnen schwere Betonteile stürzen auf die Vorderfront der Halle, auf den Eingang und auf das Foyer: Die Brücke zur Dachterrasse zwischen den Spiegelteichen führt plötzlich ins Leere. Über dem Tiergarten steigt so etwas wie eine Rauchsäule auf. Um 10.56 Uhr wird das Unglück gemeldet. In ersten Nachrichten ist die Rede von 800 Menschen, die im Gebäude, vielleicht unter den Trümmern vermutet werden. Mit Lautsprecherdurchsagen sucht die Polizei nach Vermissten. Von allen Seiten versuchen hunderte, schließlich tausende von Neugierigen, manche mit Hunden und Kindern, zu der halben Ruine vorzudringen. Die Polizei muss das Gelände weiträumig absperren. Aber auch Frauen und Männer sind in der Menge, die ihre Angehörigen noch in der Halle vermuten. Schließlich stellt sich heraus, dass weit weniger Menschen mit der Vorbereitung der für diesen Tag geplanten Makler-Tagung beschäftigt waren als vermutet.
Die drinnen waren, berichten von sich steigerndem, am Ende ohrenbetäubendem Lärm. Ein RIAS-Reporter, der wie einige Journalistenkollegen an der morgendlichen Pressekonferenz des Rings Deutscher Makler teilnehmen wollte, spricht von einem anfänglichen leichten Grummeln. Das ganze Gebäude vibriert dann, beginnt zu zittern, Fensterscheiben zerbrechen. Schließlich hört es sich an wie eine schwere niederstürzende Lawine, eine Lawine aus Staub und Beton. Als dann ein berstendes Krachen das ganze Gebäude erbeben lässt, beginnen die Menschen zu flüchten. Das Geräusch des Einsturzes wird später mit der Lautstärke eines Düsenjägers verglichen. In den ersten Meldungen wird von einem Anschlag ausgegangen. Architekt Hugh Stubbins reagiert auf die Nachricht vom Zusammenbruch der Konstruktion mit den Worten „Unglaublich! Keine Bombe?“.
Fünf Personen werden verletzt. Zwei Journalisten des Senders Freies Berlin sind darunter, von denen einer in Lebensgefahr schwebt. Schwer verwundet auch der Mann, der sich tiefe Schnitte zuzieht, als er sich durch eine Glasfront den Fluchtweg ins Freie tritt. Sechs Tage nach dem Unglück wird der SFB-Wirtschaftsredakteur Hartmut Küster an seinen schweren Kopfverletzungen sterben.
Während die Ruine gesichert wird, berichten Medien weltweit – und geben die Themen vor, die in den nächsten Jahren die Diskussion um die Kongresshalle bestimmen werden. Da ist die Ursachendebatte: Die Hamburger Morgenpost titelt „Pfusch am Bau?“, und auch die New York Times macht in ihrer Eilmeldung sofort Materialermüdung in der Stahlstruktur der Kongresshalle als Unglücksursache aus. Dann die Debatte über Sinn und Nutzen eines Wiederaufbaus: Die Frankfurter Rundschau zitiert den Regierenden Bürgermeister Stobbe von der SPD und titelt „Nun muss Berlin mit dem geborstenen Symbol leben.“ Die Berliner Morgenpost hält mit der Forderung der CDU dagegen: “Die Kongresshalle muss wieder aufgebaut werden!“
Ein Mythos ist hier zu demontieren: dass die „Einstürzenden Neubauten“ sich wegen des Unglücks diesen Namen gegeben hätten. Die Berliner Avantgarde-Band um Blixa Bargeld ist bereits am 1. April 1980 gegründet worden. Es ist also genau andersherum: Der Bandname bekam durch den Einsturz eine neue aktuelle Dimension. Aber auch so funktionierte die Kongresshalle als Symbollieferant.
Axel Besteher-Hegenbart
Der Tagesspiegel, 22.5.1980
Berliner Morgenpost, 22.5.1980
B.Z., 22.5.1980
Der Abend, 22.5.1980
The Times, 22.5.1980
Hamburger Morgenpost, 22.5.1980
New York Times, 22.5.1980
Frankfurter Rundschau, 22.5.1980
Berliner Morgenpost, 23.5.1980