1977: Die Architektur der Freiheit feiert ihren 20. Geburtstag
Sowjetische Dissidenten tagen im Jubiläumsjahr in der Halle
20 Jahre wird die Kongresshalle im September 1977 alt, als international anerkannt und symbolhaft von den Medien gewürdigt. Gut dreieinhalb Millionen Besucher waren in diesen zwei Jahrzehnten da, 6594 Kongresse, Tagungen und einzelne Veranstaltungen haben hier stattgefunden. Das macht – für Freunde der Statistik ausgedrückt: rund 330 Events mit 177.050 Teilnehmern pro annum. Dass die Halle eine besondere architektonische Sehenswürdigkeit ist, lässt sich an der Zahl von Schaulustigen ablesen, die sich in dieser Zeit an den Führungen durch das Gebäude beteiligt haben: zusätzlich über 1,6 Millionen immerhin. Dennoch, die Zeitungen, die große Ziffern und Elogen bringen, vergessen nicht, darauf hinzuweisen, dass die Kongresshalle zu klein für die aktuellen Bedürfnisse sei. Weshalb eben das Internationale CongressCentrum gebaut werde, mit einem Volumen nicht nur für 2000 Tagungsteilnehmer wie das der Halle, sondern auf bis zu 5000 ausgelegt. Das ICC hat genau in diesem Kongresshallen-Jubiläumsjahr Richtfest, die Eröffnung des neuen Zentrums ist nicht mehr weit, ist für 1979 geplant. Und so startet denn die Diskussion, was man dann mit dem „alten“ Kongressgebäude anfangen soll. Es wird überlegt, das Berliner Abgeordnetenhaus aus dem Provisorium Rathaus Schöneberg in den Tiergarten zu verlegen, in eine mit einem Erweiterungsbau auf der anderen Seite der Spree verbundene Halle. Die Idee wird schließlich verworfen, erst einmal bleibt es bei der gewohnten Veranstaltungsmixtur.
Außergewöhnlich aber ist eine recht öffentliche viertägige „Redaktionssitzung“ der Zeitschrift „Kontinent“, die von Oppositionellen aus der UdSSR und Osteuropa in Paris herausgegeben wird. Wladimir Bukowski spricht in der Kongresshalle, der wegen der Verbreitung missliebiger Schriften mehrfach für Jahre in die Psychiatrie eingesperrt und erst rund 12 Monate zuvor gegen den chilenischen Kommunistenführer Corvalán ausgetauscht worden war. Der Stalinpreisträger Viktor Nekrassow, der in Ungnade gefallene Verfasser von Historienromanen, und der Autor, Filmemacher, Protestsänger Alexander Galitsch sind da. Sie und die anderen Dissidenten empfangen Solidarität für ihr 1974 begonnenes Projekt einer literarisch-politischen Zeitschrift, die Intellektuelle der SU und Osteuropas ansprechen soll. Grußbotschaften des sozialistischen Theoretikers Milovan Djilas, von Saul Bellow treffen ein und von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, dem die UdSSR den Besitz der Wasserstoffbombe verdankt und der sich dann für einen atomaren Teststop, für Abrüstung und zunehmend für Menschenrechte engagierte. Noch ist Sacharow nicht in die Verbannung geschickt, lebt aber unter strikter Beobachtung und Repressalien. Viele der Oppositionellen äußern sich besorgt über eine von ihnen beobachtete Tendenz im Westen, sich mit Kritik an den Verhältnissen im Ostblock zurück zu halten. Eine kausale Beziehung zur Politik der Entspannung stellen sie, anders als konservative Kritiker in Deutschland, nicht her.
Ein wenig sowjetische Verhältnisse können bei einer Arbeitstagung des „Kuratoriums unteilbares Deutschland“ im Dezember beobachtet werden. Ständig kommt sowjetischer „Besuch“ vorbei. Mannschaftswagen der UdSSR-Armee fahren vor der Kongresshalle auf, und Offiziere fotografieren Teilnehmer des Treffens. Eine solche Vorgehensweise ist nicht ganz neu, aber in diesen Zeiten ungewöhnlich – das letzte Mal knipsten Rotarmisten 1954 vor der Halle.
Der Tagesspiegel 20.9.1977
Steglitzer Rundschau Jan. 1977
Berliner Liberale Zeitung 23.9.1977
Welt am Sonntag 19.2.1978
Die Welt 7.11.1977
B.Z. 10.12.1977