1970: Die Berlinale in der Krise
Die Diskussion über Verhoeven, Vietnam und „Antiamerikanismus“
„Musik und gute Laune“ verbreiten Cornelia Froboess und die durch Lieder wie „Berlin bleibt doch Berlin“ und die „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“ bekannt gewordenen Schöneberger Sängerknaben Anfang des Jahres vor der Kongresshalle. Zumindest verspricht das die Ankündigung für die Fernsehübertragung des Konzerts. Im März beginnen die Viermächte-Gespräche über Berlin. Man klammert unvereinbare Grundsatzpositionen aus und einigt sich auf praktische Regelungen. Die DDR wird de facto vom Westen anerkannt, im Gegenzug fügt sich die UdSSR in die enge Bindung West-Berlins an die Bundesrepublik. Entspannung breitet sich aus.
Weniger gutgelaunt und entspannt verläuft die diesjährige Berlinale, die am 26. Juni in der Kongresshalle eröffnet. Gezeigt wird der belgische Wettbewerbsfilm „Der große Monsieur Klann“. Der Beifall ist spärlich, Leinwandstars sind keine da, Polizei schon. „Diskret beschlagstockt“ wie der Tagesspiegel schreibt. Doch es kommt noch viel schlimmer, denn die Zeiten sind unruhig. In Vietnam dringen die Amerikaner weiter vor und ihr Einsatz wird sowohl von den Deutschen als auch von den Amerikanern heiß diskutiert. Und so kommt es, dass schon wenige Tage nach der Eröffnung der Vietnamkrieg die tiefste Krise der Berlinale verursacht. Seinetwegen passiert einmaliges in der Geschichte der Filmfestspiele: Der Wettbewerb wird frühzeitig abgebrochen. Diesem Ende gehen dramatische Ereignisse voraus. Walther Schmieding, der Geschäftsführer der Berliner Festspiele, bietet seinen Rücktritt an und fordert die Jury der 20. Berlinale auf, dasselbe zu tun. Diese weigert sich jedoch. Ausgelöst wurde der Konflikt durch das Gerücht, die Jury habe Michael Verhoevens Film „o.k.“ aus dem Wettbewerb ausgeschlossen. Es heißt, da der Spielfilm sexuelle Ausschreitungen amerikanischer Soldaten in Vietnam behandelt, habe die Jury mehrheitlich befunden, dass der Beitrag gegen die Berlinale-Regeln verstoße. Diese besagen, dass die Filme der Völkerverständigung dienen müssen. Verschärfend kam hinzu, dass das Auswahlkomitee der Berlinale „o.k.“ zugelassen, aber einen Dokumentarfilm über den Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei abgelehnt hatte. War das nun ein Zeichen für dessen „Antiamerikanismus“? Im Europa-Center, dem Pressetreffpunkt, wird heftig debattiert. Laut Michael Verhoeven und seinem Produzenten, Rob Houwer, droht der Jurypräsident George Stevens - pikanterweise ein Amerikaner - mit seinem Rücktritt, sollte „o.k.“ im Wettbewerb verbleiben. Besonders völkerverständigend wirkt der Film offensichtlich nicht - zumindest nicht zwischen dem Amerikaner und dem Deutschen. Die amerikanische Bevölkerung ist in ihrer Meinung über den Vietnamkrieg zu diesem Zeitpunkt schon lange gespalten. Ergebnis der Vorfälle ist, dass die Jury doch zurücktritt und Verhoeven seinen Film zurückzieht. Andere folgen seinem Beispiel und ziehen ihre Beiträge ebenfalls zurück. So werden dieses Jahr lediglich Rahmenpreise vergeben und keine Bären. Zum Schluss werden die auswärtigen Gäste formlos nach Hause geschickt, denn auch die Abschlussgala fällt aus. Gegen einen derartigen Mangel an gutem Benehmen und Gastfreundschaft protestiert der CDU-Abgeordnete und Hotelbesitzer Heinz Zellermeyer später im Abgeordnetenhaus.
Dina Koschorreck
Tagesspiegel 26.6.70, 27.6.70, 28.6.70, 4.7.70, 5.7.70, 8.7.70
Berlinale Jahresblatt 1970