1968: Die 68er kommen zur Kongresshalle

Gute deutsche Ingenieure und Beate Klarsfelds Anti-Nazi-Aktion

1968, Demo von Studenten der Ingenieursschulen vor der Kongresshalle, BDI-Vorstandsmitglied Gustav Stein diskutiert, Copyright: Ullstein - AP

18. Februar: Zum Abschluss eines Internationalen Vietnam-Kongresses in der TU ziehen 12.000 Demonstranten durch Berlin:„Unterstützt den Unabhängigkeitskrieg des vietnamesischen Volkes!“ Ein Verbot der Demonstration wurde erst im letzten Moment aufgehoben. 21. Februar: Gegenkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus mit der fünffachen Zahl von Teilnehmern, „Raus mit den Roten“. Ein junger Mann, der aussieht wie Dutschke, wird fast gelyncht. 2. April: Andreas Baader und Gudrun Ensslin legen einen Brandsatz in einem Kaufhaus in Frankfurt. 11. April: Rudi Dutschke wird auf dem Kudamm mit drei Schüssen lebensgefährlich verletzt. Noch am Abend gehen vor dem Berliner Springer-Hochhaus Zeitungswagen in Flammen auf, weil die Demonstranten die BILD für das Attentat verantwortlich machen. Danach folgen „Osterunruhen“ mit der Parole „Enteignet Springer!“.

Das ist die Lage, als am 11. Juni gut 1000 Demonstranten zur Kongresshalle ziehen, sozusagen als Delegation der Ingenieursstudenten, die sich seit einigen Tagen bundesweit im unbefristeten Streik befinden. Natürlich werden sie dort von – so schreiben die Medien – „starken Polizeikräften“ erwartet. Natürlich kommen sie nicht in die Kongresshalle, wo die Mitglieder des Bundesverbands der Deutschen Industrie tagen. Schließlich sind da auch noch Bundespräsident Lübke und Bundeswirtschaftsminister Schiller. Die Studenten lassen sich zum Sit in nieder, verlesen ihre Forderungen nach Aufwertung ihrer Ausbildung. Sie wollen besser studieren. Das versteht natürlich auch der BDI-Vorstand, der mit dem Megaphon vor die Halle tritt, um zu den Demonstranten zu sprechen. Alles bleibt friedlich, keine Gewalt, eine einsame rote Fahne wird schnell entfernt. „Wir demonstrieren als zukünftige gute deutsche Ingenieure“, „gut“ ist unterstrichen, nicht „deutsch“.

Garnicht friedlich verhält sich dagegen eine junge Frau, die im November beim CDU-Parteitag in der Kongresshalle auf Kurt-Georg Kiesinger zutritt. Sie will anders als die vor ihr kein Autogramm vom Bundeskanzler, springt plötzlich vor, schlägt ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, ruft „Kiesinger, Nazi, tritt zurück!“ Als sie nun festgehalten wird, klärt sich ihre Identität: Beate Klarsfeld, ausgestattet mit einem Presseausweis der französischen Zeitung „Combat“. Aufruhr beim Parteitag, CDU-Landesvorsitzender Amrehn, immer für einen starken Spruch gut, nennt sie eine „hysterisch verhetzte Person“. Die Justiz reagiert schnell: Noch am selben Tag wird Frau Klarsfeld von einem Bereitschaftsgericht zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Wenn man bedenkt, dass im selben Jahr 1968 die Ermittlungen gegen die Richter des Volksgerichtshofs gestoppt werden, sind Schnelligkeit des Verfahrens und Strafhöhe doch recht bemerkenswert. Klarsfeld quittiert den Prozess mit der Bemerkung, es hätte während der NS-Zeit „nicht anders sein können“. Ein ehemaliges NSDAP-Mitglied dürfe nicht Bundeskanzler sein.

Nun kann man streiten, wie stark Kurt-Georg Kiesinger belastet war, auf jeden Fall aber war er in der deutschen Politik keine Ausnahme. Zum Beispiel die beiden Ehrengäste beim BDI: Bundesminister Schiller hatte eine Vergangenheit als NSDAP-Ortsgruppenleiter, und über die Verwicklung Heinrich Lübkes in den Bau von KZ-Baracken wurde damals viel diskutiert. Die Kongresshalle dagegen spielte eine Rolle bei der „Entnazifizierung“: 1960 gab es hier die Ausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ und 1000 junge Leute bedrängten einige ältere Politiker und Wissenschaftler, „Wie war Hitler möglich?“ Ossip K. Flechtheim gab zu, die meisten Deutschen hätten von den KZs gewusst. Und 1961 fand hier – Spencer Tracy und Judy Garland und hunderte Journalisten waren dabei – die Weltpremiere des Films „Das Urteil von Nürnberg“ statt. Marlene Dietrich, mit der Beate Klarsfeld später gut bekannt war, war zu diesem Ereignis auch angekündigt.
Axel Besteher-Hegenbart

Tilman Fichter, Siegward Lönnendonker: „Berlin: Hauptstadt der Revolte“, 1980, in „Archiv APO und soziale Bewegungen`“, auf web.fu-berlin.de
www.glasnost.de
Berliner Morgenpost, 12.6. 1968
Der Tagesspiegel, 11.6. + 12.6.1968
Der Tagesspiegel 8.11.1968
www.netzeitung.de
www.faz.net
New York Times, 20.11.1960
New York Times, 15.12.1961
Los Angeles Times, 16.12.1961