1965: Theater am Himmel
Sowjetische Düsenjäger im Sturzflug auf die Kongresshalle
Am 8. April dröhnen sowjetische MiGs über West-Berlin. Einzeln oder in Staffeln, im Sturz- oder Tiefflug rasen die Düsenjäger mit dem roten Stern über die Kongresshalle, durchbrechen die Schallmauer und feuern Übungsmunition ab. Auch über den Flughäfen Tegel, Tempelhof und Gatow fliegen sie Manöver und in Teilen der Stadt bersten ob des Fluglärms Fensterscheiben. Der Transitautobahnverkehr von und nach West-Berlin ist durch lange Wartezeiten an der deutsch-deutschen Grenze erschwert und stundenweise durch Sperrungen der Strecke vollständig unmöglich gemacht. DDR und Sowjetunion lassen die Muskeln spielen. Den älteren Berlinern ist das Szenario vertraut, Erinnerungen an die Blockadezeit, sogar an die letzten Kriegstage, werden wach. Ganz West-Berlin ist im Alarmzustand. Warum das alles? Weil in der Kongresshalle eine Bundestagssitzung stattfindet. West-Berlin sei kein bundesrepublikanisches Territorium und die Sitzung fände daher unrechtmäßig statt, lassen die Regierungen der Sowjetunion und der DDR verlautbaren – und sie handeln.
In der Kongresshalle zeigt man währenddessen Haltung. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier protestiert „in aller Form“ gegen die Flieger und die bereits seit einer Woche andauernden Behinderungen des Transitverkehrs. Sie verletzten das Recht auf freien Zugang nach West-Berlin, erklärt er. Die Stimmung ist zunächst angespannt, bald darauf siegt bei den Abgeordneten jedoch der Humor und eine Zusatzfrage jagt die andere. Während es draußen weiter dröhnt und knallt, besprechen sich Bundeskanzler Ludwig Erhard und Bürgermeister Brandt in einem der Konferenzräume. Einige Berliner beobachten zeitgleich vom Rand des Spiegelteichs aus wütend das „Theater am Himmel“ über der Kongresshalle. Sie halten Schilder hoch: „Berlin grüßt den Bundestag trotz Ost-Provokationen“ Alte Männer schütteln ihre Fäuste gen Himmel. Am nächsten Tag protestieren die Amerikaner, Briten und Franzosen „in schärfster Form“ gegen die Schikanen, die Amerikaner sogar „in den stärksten Ausdrücken“. Washington gibt aber zu, von der heftigen sowjetischen Reaktion überrascht worden zu sein. Kein Wunder, denn die Bundestagssitzung acht Jahre zuvor, auch in der Kongresshalle, hatte – von einigen Straßensperrungen abgesehen – ziemlich problemlos stattgefunden. Die Bundestagssitzung 1955 war von der DDR - die zu diesem Zeitpunkt noch auf Wiedervereinigungskurs war - sogar mit einem Glückwunschtelegramm bedacht worden. Die Manöver 1965 sind tatsächlich die ersten sowjetischen Verletzungen des West-Berliner Luftraums nach Kriegsende überhaupt. Gerstenmaier meint dennoch, der „Nutzen der Bundestagssitzung in Berlin [sei] größer als der Schaden“ und will die Sitzungen fortführen. Willy Brandt will den Zugang zu Berlin sogar durch eine neue Behörde regeln lassen, muss jedoch hinnehmen, dass die Westmächte sich nur fünf Tage später gegen weitere Bundestagssitzungen in Berlin entscheiden. 1971 muss er als Bundeskanzler ihre Entscheidung sogar schriftlich im Viermächte-Abkommen mittragen. Nur einige Ausschusssitzungen und die Wahl des Bundespräsidenten finden fortan noch in West-Berlin statt.
Dina Koschorreck
Der Kurier, 9.4.65The Washington Post, Times Herald 8.4.1965
Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Band 3, Stichtag 4./7. April 1965
Der Tagesspiegel, 9.4.65
The Washington Post/ Times Herald 8.4.1965
Chicago Tribune, 8.4.1965
New York Times, 8.4.1965