1963: West-Berlin ist mein Land
Präsident John F. Kennedy bei der IG Bau-Steine-Erden in der Kongresshalle
„So`ne Riesenmenschenmenge
und begeistertes Gedränge
gab es in Berlin noch nie.
Alles Jute, Kennedy!“ reimt der West-Berliner „Telegraf“ und trifft die Situation am Vortag genau. Kinder haben an diesem 26. Juni schulfrei, Müllmänner Pause. Auch viele Betriebe arbeiten nicht und die Behörden nur, wenn es unbedingt sein muss. Die Straßen entlang stehen sie dichtes Spalier, die West-Berliner. Die Zeitschrift mit dem passenden Namen „Neue Welt“ hat in der Menge Stars and Stripes-Fähnchen ausgeteilt. Manche schätzen später, es seien 1,5 Millionen gewesen, die da auf den Beinen waren, aufgeregt, dankbar für den Besuch nach Mauerbau und Kubakrise, neugierig auf den jungen glamourösen Präsidenten. Eine Straßen-Blitzumfrage des Senders Freies Berlin ergibt natürlich die einhellige Meinung: Kennedy in Berlin – enorm wichtig!
Der Terminkalender des Besuchs sieht vor: 9.45 Uhr Landung auf dem Militärflughafen Tegel, 10 nach 11 Ankunft in der Kongresshalle. Es fällt auf, dass der minutiöse Ablaufplan in der Zeitung steht, mit allen Einzelheiten, heute unvorstellbar.
Die Ghostwriter Kennedys sind wirklich fit: Es ist ja nicht nur der allseits bekannte Ausruf „Ich bin ein Berliner!“, der die Leute begeistert, oder das „Kölle alaaf!“ am Ende seiner Rede am Rhein. Hier in der Kongresshalle geht der Präsident auf das Benjamin Franklin-Zitat in deren Foyer ein. Mit Gottes Hilfe, so steht da in etwa, sollten Freiheitsliebe und Beachtung der Menschenrechte alle Länder der Welt durchdringen, so dass ein Philosoph, wo auch immer er den Fuß auf die Erde setzt, sagen könne: „Das ist mein Land.“ Kennedy antwortet schlicht und ergreifend „West-Berlin ist mein Land“. Und er betont die Rolle der Gewerkschaften im Aufbau einer freien Gesellschaft ebenso wie die Bedeutung der Freiheit für den Kampf um ein gutes Leben. Kennedys Behauptung, die USA streckten in Südamerika, Afrika, Asien ihre helfende Hand für den Aufbau freier Gewerkschaften aus, kann wohl nicht so ganz geglaubt werden. Dafür aber sein Hinweis, dass Frieden und Freiheit die Bedingung für die deutsche Wiedervereinigung seien. Denn damit nimmt er nach den Erfahrungen des Schweinebucht-Abenteuers USA-unterstützter kubanischer Contras 1961 und der Atomraketenkrise 1962 eine wichtige Weichenstellung vor: Deutsche Einheit nicht als Voraussetzung eines friedlichen Nebeneinanders der Systeme, sondern als vielleicht irgendwann eintretende Folge. Dass hier die Grundlagen der beginnenden Entspannungspolitik umrissen werden, kann den Bauarbeiterfunktionären in ihrer Begeisterung ebenso entgehen wie den Millionen Berlinern, wird aber in den nächsten Jahren wichtig. [die komplette Rede in English]
John F. Kennedy jedenfalls wird gefeiert mit Blumen und Hochrufen in der Kongresshalle ebenso wie dann am Brandenburger Tor, am Checkpoint Charlie Kochstraße wie vor dem Schöneberger Rathaus. Hier dann erklärt sich Kennedy zum Berliner und die Berliner adoptieren ihn. Auch 20.000 Studenten jubeln, als er schließlich an der FU spricht – dort wird die Stimmung nur kurze Zeit später extrem anders sein, wenn ein amerikanischer Präsident in die Stadt kommt.
Bei den Bildern vom winkenden John F. Kennedy in seinem offenen schwarzen Präsidentenwagen vor der Kongresshalle fallen einem natürlich auch spätere Ereignisse ein. Er hat zu diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr 5 Monate zu leben. Nach den Schüssen von Dallas kommen wieder hunderttausende Berliner vor dem Rathaus Schöneberg zusammen, diesmal zu einer Trauerfeier. Und in der Kongresshalle wird zur 1jährigen Wiederkehr des Tags seiner Ermordung ein Gedenkgottesdienst stattfinden.
Axel Besteher-Hegenbart
Der Tagesspiegel 25.6.63
New York Times, 25.6.63
Telegraf 26. + 17.6.63
Los Angeles Times 27.6.63
New York Times, 27.6.63
Los Angeles Times 22.11.64
Der Tagespiegel 26.6.2003
John F. Kennedy: Remarks in Berlin to the Trade Union Congress of German Construction Workers, June 26th, 1963, veröffentlicht auf The American Presidency Project