1962: Technisches Zeitalter, Literatur und Aufbruch

Ingeborg Bachmann, John Dos Passos, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Eugène Ionesco, Henry Miller in "der Halle"

1962, Walter Höllerer am Rednerpult und Friedrich Dürrenmatt am Autorentisch, Copyright: ullstein - Heinz Köster

Ein überfülltes Auditorium, 1500 Zuhörer dichtgedrängt, aufgeregtes Zigarettenqualmen: Montags 18 Uhr finden Lesungsereignisse in der Kongresshalle statt. Walter Höllerer lädt schon seit November `61 dorthin ein, der Lyriker-Literaturkritiker-Literaturwissenschaftler-Literaturzeitschriftenherausgeber-spätere „Literarisches Colloquium“-Gründer. Der Impressario, erste moderne Kulturmanager. Höllerer konfrontiert die literarische Szene ebenso wie eine breite Öffentlichkeit mit wichtigen aktuellen Tendenzen. Er hat schon 1961 eine Anthologie „Junge amerikanische Lyrik“ zur „Beat“-Autorengeneration herausgebracht, dem Band eine Schallplatte mit den Originalstimmern von Ginsberg und Burroughs beigelegt. Das erste Lyrik-Hörbuch. Er lehrt an der Technischen Universität, seine Hörer dort sind Maschinenbauer oder Chemiker. Er gründet erst den Forschungsbereich, dann die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“, drückt damit die bestehende allgemeine Beunruhigung über die Möglichkeiten der Technik genauso aus, wie seine Beschäftigung mit Fragen der sich weiterentwickelnden Medien, der Übersetzung, der Sprach-Zeichensysteme. Und er eröffnet die Lesungsreihe in der Kongresshalle mit dem Symbol für die neue deutsche Schriftstellergeneration. Ingeborg Bachmann tritt, so heißt es, äußerst scheu auf, spielt aber mit dieser Scheu und den Fernsehkameras. Denn Kameras sind hier natürlich dabei, Höllerers Mittel zur Verbreitung der Literatur sind eben modern. Am Sonntag früh zwischen 9.35 und 10.50 Uhr strahlt die ARD, die zu diesem Zeitpunkt einzige westdeutsche Fernsehanstalt, die Aufzeichnungen aus, am 4. Februar 1962 zum Beispiel ein und eine Viertel Stunde lang Eugène Ionesco. Kultur für ziemliche Massen, auch wenn erst 1964 die Zahl von 10 Millionen Fernsehsehern erreicht sein wird.

Höllerer wendet sich in der ersten Veranstaltung in der Kongresshalle an den vollen Saal: „Es wird an uns allen liegen, an Ihnen ebenso wie an uns hier vorne, … ob es Abende werden mit der Möglichkeit, einiges neu zu sehen, einiges zu verändern.“ Tatsächlich, diese Veranstaltungen bedeuten mehr als ein „Dichter lesen-Publikum konsumiert“-Ritual. Die Atmosphäre muss, betrachtet man Fotos aus dem Auditorium, späteren teach-ins nicht unähnlich gewesen sein. Noch stärker spürt man das bei Aufnahmen vom „Kongress für Literatur und Politik“, der im November `62 auch hier stattfindet. Ein Aufbruch aus, wie Höllerer in anderem Zusammenhang schreibt, einem „Mantel des Betulichen, Familiären oder Autoritären“.

Dieses Interesse zeigt sich genauso bei einem sicher schwierigeren Thema: Im selben November startet in der vollen Kongresshalle die Reihe „Musik im technischen Zeitalter“, die nach und nach 13 internationale Komponisten und jeweils einige ihrer Werke präsentiert, Karlheinz Stockhausen, John Cage, Pierre Schaeffer, Luigi Nono unter anderen. Gestartet wird mit Boris Blacher und seinen „Raummusik“-Experimenten. Er stellt Kompositionen vor, die mit „Tonmühlen“ zur Erzeugung von kreisenden Phantomschallquellen oder mit dem Wechselspiel von Live-Klavier und mehrspurverfremdetem Piano experimentieren. Ein ganzes Lautsprechersystem ist da in der Kongresshalle im Einsatz, und trotzdem überträgt die ARD – Raummusiken für Fernseher, die nur mono hören können.

Laudatio von Joachim Kalka aus Anlass der Verleihung des Calwer Hermann-Hesses-Preises 2006 an den Verleger Joachim Neuß und Redakteur Thomas Geiger der Zeitschrift „Sprache im Technischen Zeitalter
SWR2 : Feature am Sonntag: „Der Zirkusdirektor hat das Wort. Walter Höllerer“, Autor Helmut Böttger, 2006
„Musik im Technischen Zeitalter“, 19.11.1962, Boris Blacher zu Gast bei Hans Heinz Stuckenschmidt, Transskription der SFB-Fernsehaufzeichnung