1960: Das Dach: Symbol und Funktion
Die Kongresshallen-Debatte und die kritischen Argumente des Frei Otto
Die Kongresshalle ist in eine Art Alltagsbetrieb eingetreten. Die deutschen Ärzte tagen, die IG Metaller, die Forscher am Straßenwesen, die Filmarbeiter für die Jugend, der Deutsche Studenten- und der Deutsche Journalistentag und die Schriftsteller deutscher Sprache, die „Union des Etudiants Catholiques Africains“ und die Liberale Weltunion. Normales Tagungsgeschäft eben, soweit man von Normalität sprechen kann in einer Stadt, in der in diesem Jahr über 150.000 Menschen über die Demarkationslinie von Ost nach West wechseln. Während also Jahr für Jahr zigtausende ihre Heimat zwischen Rügen und Erzgebirge durch den Notausgang Berlin verlassen, findet in der Kongresshalle der Verbandstag der Heimkehrer statt. Man sieht daran: Deutsche Geschichte hält die Menschen in Bewegung.
Dass die Kongresshalle trotz allen Alltagsgeschäfts doch „nach Osten ausstrahlt“, zeigt ein gereizter Artikel in der DDR-Architekturzeitschrift vom März. Um mehrere Jahre verspätet resümiert die „Deutsche Architektur“ die Argumente des wohl scharfsinnigsten Kritikers des Kongresshallendesigns, des westdeutschen Architekten Frei Otto. Das geht nicht ohne die übliche einleitende Polemik gegen Eleanor Dulles ab, der das gewohnheitsmäßige Einschleusen von Agenten und Brandstiftern vorgehalten wird. Aber es lohnt dennoch, die Diskussion nachzuschlagen, die Otto, der Mitte der 50er mit Zeltkonstruktionen experimentiert hat und später kühne Netzbauten wie das Münchener Olympiastadion schafft, mit Stubbins führt.
Die Argumente werden 1958 zeitgleich von „Bauwelt“ und der amerikanischen „Architectural Forum“ abgedruckt – und die sehr unterschiedlichen vielleicht prototypischen Herangehensweisen der beiden Architekten werden hier deutlich: Die Hauptkritik Frei Ottos zielt natürlich auf die Konstruktion des Daches. Sie sei zu kompliziert, alles hänge letztlich an dem Betonring über dem Auditorium, dessen Last nur zu einem geringen Teil durch die beiden Pfeiler abgenommen werde. Aber genau dieser Betonring und weitere in Wirklichkeit tragenden Elemente, die bei anderer Konstruktion unnötig wären, würden den Blicken verborgen. Hier sei keine Einheit von Form und Funktion angestrebt, kritisiert der Deutsche. Stubbins erwidert, Form in der Abhängigkeit von der Funktion müsse dem Ausdruck der Schönheit untergeordnet sein. Wo Otto es für widersinnig erklärt, die Gestalt einer abstrakten Idee suchen (und bauen) zu wollen, betont der amerikanische Architekt, Symbole seien Teil des menschlichen Wesens. Soweit zitiert die Ost-„Deutsche Architektur“ korrekt, wenn sie auch die Positionen von Stubbins verdrängt. Aber Frei Otto fasst zusammen: Diese neue Gebäudeform sei zweifellos „eine Tat“, ein notwendiger Anfang. Die DDR-Zeitschrift dagegen endet erwartungsgemäß totalnegativ mit den Sätzen, so sehr das ganze Gerede von Demokratie und „freiem Geist“ schillere, so verlogen sei es, wie eben die ganze Kongresshalle von Westberlin. Was zu beweisen war …
Axel Besteher-Hegenbart
Helgard Behrendt, Die Mauerschneise, Berlin 1994
Deutsche Architektur, 3/1960
Architectural Forum 108, 1958
Bauwelt 1/1958