1958: Goldner Schlüssel, Dialog und Frontstadt-Trotz
West-Berlin hat ein neues Haus – Berlinale-Eröffnung mit Gina Lollobrigida und Sidney Poitier
Die Kongresshalle ist außerordentlich beliebt bei den Berlinern, dazu tragen die Sonderstempel des hauseigenen Postamts ebenso bei wie die Bierterrasse oder die Dampferanlegestelle. Aber auch das Programm der „Kammerspiele“, die hier spielen, zum Beispiel im Juni: Kinski liest Villon, der Genialische rezitiert Verse wie „Nichts scheint mir sichrer als das nie Gewisse …“ und „..bis zu den Zähnen reicht mir schon der Kot.“ Ein halber Skandal. Sehr gesittet dagegen sieht man eine Dame im quergestreiften Kleid auf dem Jubiläumsfoto stehen: Nicht einmal ein Jahr nach der Einweihung ist es soweit, am 9. September erhält die 250.000. Besucherin der Kongresshalle einen Strauß Gladiolen und einen Freiflug nach Brüssel zur Weltausstellung.
Die Halle gehört übrigens jetzt auch offiziell „den Berlinern“. Am 26. April schon wird ein Goldener Schlüssel vom Vorsitzenden des Bauherrn Benjamin Franklin-Stiftung an den neuen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt übergeben. Der betont noch einmal, dass dies eine Stätte der freien Rede und Gedankenaustauschs sein und bleiben solle. Dem stimmt Bundespräsident Heuss in seiner Ansprache zu und weist darauf hin, dass Franklin der erste mit einem „American Way of Life“ war: eben ein Selfmade Man. USA-Gründervater Benjamin Franklin war ja, so stellt man beim Nachschlagen fest, Seifensiederssohn. Die Reden wirken im Echo der Zeitungen bereits etwas formelhaft, vielleicht erschöpft sich der blanke Trotz einer Frontstadt.
So kann man jedenfalls die politischen Aussagen auf der Eröffnung der 8. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele werten, die damals noch im Frühsommer stattfanden und nun Premiere in der Kongresshalle haben. Brandt plädiert in seiner Rede für mehr Weltoffenheit. Erstmals wird ein Film aus der UdSSR eingeladen, die aber diese Geste zurückweist. Die osteuropäischen Staaten bleiben wegen der Politik der Isolierung aller Länder, die diplomatische Beziehungen zur DDR unterhalten, sowieso ausgespart. Es soll noch bis 1974 dauern, bis der erste sowjetische Film in Berlin läuft. Amerikanische Journalisten berichten von der Berlinale-Eröffnung: Draußen floß der Regen, drinnen der Champagner. Stars aus 36 Ländern sind da, angeführt von Gina Lollobrigida. Sidney Poitier bekommt für seine Rolle in „The Defiant Ones“ - Flucht in Ketten - einen Silbernen Bären. (Und „Wilde Erdbeeren“ einen Goldenen.) Walt Disney lässt sich auch vor der Halle fotografieren.
Passend unpassend übrigens zu den Hoffnungen auf der Berlinale: Im November dieses Jahres stellt Chruschtschow das Ultimatum, die Westmächte hätten Berlin binnen 6 Monaten zu verlassen. Und in der Bundesrepublik läuft die Auseinandersetzung um die Atombewaffnung der Bundeswehr - da „passt“ es ebenfalls, dass das Wahrzeichen der Brüsseler Expo, zu der die 250.000. Besucherin fliegt, das Atomium ist …
Axel Besteher-Hegenbart
www.klaus-kinski.de
New York Times 27.4.58
Chicago Daily Tribune 27.4.58
Berliner Morgenpost 27.4.58
www.berlinale.de
Los Angeles Times 2.7.58