Interpretation und Missinterpretation

Claudio Valdés Kuri über El automóvil gris

In der Stummfilmära brachte Japan ein einzigartiges Phänomen hervor: den Benshi, einen Erzähler, der neben der Leinwand saß, den Film durchspielte, Erklärungen und Kommentare abgab und den Charakteren seine Stimme lieh. Das goldene Zeitalter des Benshi war in Japan wie in Mexiko die Stummfilmzeit. In diesen Filmen kann man Bilder einer mittlerweile verlorenen Vergangenheit sehen - Bilder, die dem heutigen Publikum genauso neu, fremdartig und überraschend erscheinen wie es die Kurzfilme der Lúmiere-Brüder für die Zuschauer zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren. Mit der Einführung des Tonfilms wurde die Rolle des Benshi überflüssig. Erst heute erkennen wir in dem Stummfilm mit Erzählbegleitung ein zeitgenössisches Genre, das Film, Theater und Musik vereint - eine wirklich interdisziplinäre Kunstform. El automóvil gris ist ein Projekt, das die Kunst des Benshi durch die Interpretation eines mexikanischen Stummfilm-Klassikers vorstellt. Es stellt so eine Wiedervereinigung zweier weit entfernter geistiger Geografien dar: das strenge und traditionelle Japan und das spontane und erinnerungslose Mexiko. Dieser disparate narrative Stil ist der Ausgangspunkt des Projekts. Hier prallen Sprachen, Geschichten, und Gewohnheiten aufeinander, teilen sich Interpretation und Missinterpretation dieselbe Bedeutungsebene - alle auf der Suche nach etwas Universellem.El automóvil gris ist auch der Versuch, sich zu erinnern. Von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt ist dies eine Reise nach Ithaka, die uns an neue Orte führt, während wir die altbekannten suchen. Es ist eine Reise durch das vergessene Mexiko-Stadt von 1915, wo die Straßen schon dieselben Namen haben, aber 25 Millionen Menschen weniger auf ihnen unterwegs sind. Die Zeit wirkt wie ein Filter: Was die Menschen früher zum Weinen brachte, darüber lachen wir heute, und worüber sie lachten, verstehen wir vielleicht gar nicht mehr. Es ist also keine leichte Aufgabe, denn es geht darum, neue Wege der Interpretation zu beschreiten, ohne den Geist und die Essenz der kreativen Kräfte der Vergangenheit zu verraten.


Sich selbst zuhören

Aus einem Interview von Luz Emilia Aguilar Zinser in DF Revue, dem wöchentlichen Stadtmagazin von Mexico City vom 5.11.2004

"Ich suche stets danach, meine Grenzen zu überschreiten. Die Geschichte dieser großen Persönlichkeit war dafür der ideale Resonanzkörper. Jeanne d'Arc steht für den Kampf, sich selbst zu besiegen; der Kampf des Menschen gegen den Menschen."

Ist Ihr Theater asketisch im Sinne des „Armen Theaters“ von Grotowskys?

Arm ist es nicht, aber es handelt sich um eine sehr einfache strenge Ästhetik in einer sehr barocken Konstruktion. Ich folge keinem besonderen Einfluss. Meine Sprache ist persönlich. In diesem Werk siehst du zwei Stühle, einen Tisch, die Theaterbestuhlung. Für das Werk ist der visuelle Kontakt zwischen dem Zuschauer und den Schauspielern fundamental. Das beschränkt uns auf vier Parkett-Sitzreihen. Mit dem Niederreißen der vierten Wand suchen wir nach einer aktiven Beteiligung des Publikums, das Teil des Bühnenbildes ist: Der Schauspieler ist Zuschauer, der Zuschauer Schauspieler. Die Gerichteten sind Richter, Opfer und Täter.

Welche Rolle spielt der Klang?

Er war in allen Inszenierungen des Ensembles sehr wichtig. Der Schamane bewegt Energie, die großen Regisseure bewegen Energie. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Instrumente ausgesucht. Das Alphorn berührt dich durch Klangwellen. Dein Körper spürt das direkt. Der Dudelsack ist rund, offener. Die Harmonika, die lange Zeit zu spielen verboten war, nachdem man bemerkte, dass ihr Spiel einen in Trance versetzen konnte, ist es in der Lage ist, eine sehr beunruhigende Atmosphäre zu erschaffen. Als ich die Harmonika zum ersten Mal hörte, sagte ich, das ist das Instrument der Jeanne d'Arc.