In Situ Anthropozän

Kuratorisches Statement

Mississippi. An Anthropocene River macht die ikonische Landschaft des Mississippi als kritische Zone lesbar, die von Menschen nicht nur bewohnt, sondern weitreichend gestaltet wird. Das gemeinschaftliche Lern- und Forschungsexperiment versteht den Fluss als ebenso vielschichtigen wie geschichtsträchtigen Raum, in dem der planetarische Übergang ins Anthropozän, das geologische Zeitalter der Menschheit, greifbar wird. In transdisziplinären Feldforschungen und in Zusammenarbeit mit den Menschen und Wissensbeständen vor Ort, versucht das Projekt das komplexe Zusammenspiel aus Geschichten, Ökologien, Technologien und Weltanschauungen zu verstehen, die das Flusssystem geformt haben und weiterhin formen.

Von der Landschaft lernen

Der Begriff Anthropozän birgt die Möglichkeit, gegenwärtige Lebens- und Überlebensbedingungen in einem Erdsystem, das entscheidend von den Menschen beeinflusst wird, neu zu denken. Er bietet Raum für die Auseinandersetzung mit den Wirkungszusammenhängen von geologischen und politischen Prozessen, von technologischen Systemen und den daraus resultierenden sozioökologischen Realitäten. Diese veränderlichen und oft asymmetrischen Wechselwirkungen bringen teils unumkehrbare Transformationen mit sich, die möglicherweise verhängnisvoll für die zahlreichen menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen auf der Erde sind.

Es ist nicht leicht vor diesem Hintergrund zu bestimmen, wo „wir“ als Menschen in den planetarischen Zyklen und Systemen zu verorten sind, wer dieses „Wir“ überhaupt ist, und welche Formen von Schuld, Verantwortung, Handlungsmacht und Solidarität daran gebunden sind. Gleichzeitig werden überkommene Grundannahmen des westlichen Denkens, wie die Unterscheidungen Natur/Kultur, Ursache/Wirkung oder innen/außen hinfällig. In dem Maße, in dem sich die Welt verändert, verstricken sich auch die Grundlagen des Wissens mit vielfältigen Deutungsweisen, mit Werten, Fakten, Gegen-Fakten, Kenntnis und Verfügbarkeit. Um sich in dieser Übergangszeit zurechtzufinden, bedarf es neuer Formen der Zusammenarbeit und der „bottom-up“-Forschung. Um angemessene Antworten auf die Herausforderungen des Anthropozäns zu finden, müssen grundsätzlich neue Forschungs- und Bildungsmodelle und -praktiken entwickelt werden, die veraltete Kategorien mit gelebter Erfahrung ersetzen können, um die vielen Bestandteile und Verhältnisse der anthropozänen Welt miteinander zu verknüpfen.

Als wagemutiges und ergebnisoffenes Experiment begegnet Mississippi. An Anthropocene River diesen erkenntnistheoretischen Fragen, indem es planetarische Veränderungen in den lokalen Landschaften eines gewaltigen Flusssystems lesbar macht. Der Mississippi ist nicht nur ein Raum umstrittener Lebensrealitäten, sondern auch Symbollandschaft für das menschliche Eingreifen in die Natur. Die Erforschung dieses riesigen Korridors für Industrie und Landwirtschaft, der die USA in ihrer Mitte teilt, soll helfen neue, anthropozäne Wissenspraktiken zu entwickeln. In enger Zusammenarbeit mit den Teilnehmer*innen (Einzelpersonen, Forschungsgruppen, Institutionen) und Partner*innen aus unterschiedlichen Bereichen, Disziplinen und Praktiken sucht das Projekt den Dialog mit den verschiedenen Gemeinschaften und Interessenlagen entlang des Mississippi. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den anthropozänen Veränderungen dieser Landschaft, die einst viel weniger ein Fluss als ein riesiges Flutungsgebiet war. Die konkreten Arbeitspraktiken und -formen werden in experimentellen Konstellationen und öffentlichen Gesprächen weitergeführt und bilden den Rahmen für die gemeinschaftliche und angewandte Forschung, die dem gesamten Projekt zugrunde liegt.

Ein gemeinschaftliches Experiment

Mehrere miteinander korrespondierende Projektelemente bringen internationale und lokale Forschungsgruppen, Künstler*innen und Aktivist*innen aus unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen zusammen. Seit Herbst 2018 arbeiten fünf Teams an Anthropocene River Field Stations in verschiedenen Landschaftsformationen entlang des Flusses, während die Anthropocene River School sowohl vor Ort als auch online öffentliche Seminare und Veranstaltungen durchführt. Im Herbst 2019 reist eine Gruppe Studierender, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen im Rahmen der Anthropocene River Journey flussabwärts von der mythischen Quelle des Flusses nahe des Lake Itasca bis zum Golf von Mexiko und verknüpft auf dem Weg die Arbeit und Veranstaltungen der einzelnen Field Stations. Die Reiseteilnehmer*innen werden außerdem während des einwöchigen Anthropocene River Campus in New Orleans zusammenkommen, wo sie die verschiedenen lokalen Forschungsansätze des Projekts diskutieren; dies alles vor dem Hintergrund des Mississippi River Delta, in dem sich lokale und globale Problemlagen auf einzigartige Weise verknüpfen. Alle Forschungsmaterialien und Ergebnisse werden auf anthropocene-curriculum.org zugänglich gemacht. Die Website ist somit gleichzeitig Forschungsplattform, Arbeitswerkzeug und Zugang zum Anthropocene Curriculum. Das Projekt Mississippi. An Anthropocene River ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Netzwerks.

Mississippi. An Anthropocene River ist ein ehrgeiziges Experiment, das nur dank des Einsatzes und der Großzügigkeit zahlreicher Forscher*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Institutionen und Initiativen in den USA, in Deutschland und andernorts möglich wird. Unser besonderer Dank gilt den Förderern dieses Projektes – dem Auswärtigen Amt und seiner Initiative Wunderbar Together sowie der Max-Planck-Gesellschaft – für das Vertrauen und die Unterstützung, die es uns ermöglichen, dieses experimentelle, neuartige und fortdauernde Projekt zu entwickeln.

Das Berliner Projektteam